unerzogen - die häufigsten Vorurteile und was unerzogen wirklich ist

Unerzogen: die häufigsten Vorurteile und wie es wirklich ist

Kinder ohne Erziehung ins Leben zu begleiten, stößt immer wieder auf Unverständnis und jede Menge Vorurteile. Hier schaue ich mir die häufigsten Argumente gegen unerzogen mal näher an und kläre auf, wie es wirklich ist. Denn unerzogen ist in den meisten Fällen nicht das, was die meisten Menschen vermuten.
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Unerzogen, friedvolle Elternschaft oder ganz einfach der Verzicht auf Erziehung ist den meisten Menschen unbekannt. Mehr noch, die aller meisten Menschen können sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie es ohne Erziehung gehen kann.

Auch das Wort unerzogen selbst ist eher abschreckend als verbindend. Unerzogen, das klingt, wie ungezogen und das ist es wohl auch, was die meisten Menschen damit in Verbindung bringen. Kinder nicht zu erziehen ist krass. Für die allermeisten ist dieser Gedanke so fern jeglicher Möglichkeit, dass sofort einige Vorurteile und Missverständnisse auftauchen.

Es ist aber nicht nur das Wort, sondern auch der andere Umgang mit Kindern, der immer wieder etliche Fragen aufwirft. Leider bleibt es nicht immer nur bei interessierten Fragen, oft werden auch vorschnell irgendwelche Schlüsse gezogen und die Suche nach den passenden Schubläden beginnt.

Während ich total verstehen kann, dass Fragen aufkommen und ich immer gerne auf interessierte Nachfragen eingehe, versuche ich mittlerweile Abstand vom Rechtfertigen oder Überzeugen zu nehmen. Das hat ohnehin keinen Sinn und ist in meinen Augen vergebene Liebesmüh. Ich kann niemanden von etwas überzeugen. Unerzogen ist wie das Freilernen oder das kindergartenfreie Leben so fern der „normalen“ Lebensrealität und wirft alles über den Haufen, was die allermeisten Menschen ihr Leben lang für gegeben geglaubt haben, dass es oft sogar als persönlicher Angriff gesehen wird. Deshalb diskutiere ich nicht mehr.

Im Verwandtschafts- und Bekanntenkreis ist das nun leider nicht immer möglich, auch wenn es hier meiner Erfahrung nach auch hilft, möglichst klar und selbstbewusst den eigenen Standpunkt zu kommunizieren. Deshalb habe ich mir hier mal die gängigsten Vorurteile gegen unerzogen angeschaut und nehme Stellung dazu.

Wenn auch du immer und immer wieder in ermüdende Diskussionen gerätst oder bei deiner Familie oder Freunden großes Unverständnis herrscht, dann hilft dir der Artikel vielleicht beim nächsten Mal zu einem etwas neutraleren Gespräch. Vielleicht bist du aber selbst erst darüber gestoßen, dass man Kinder auch ohne klassische Erziehung ins Leben begleiten kann und du hast noch einige Vorbehalte? Dann ist der Artikel natürlich auch für dich.

Was ist unerzogen überhaupt?

Unerzogen ist eine Haltung. Es geht nicht darum, etwas nach Schema XYZ zu tun, sondern darum, Kinder so anzunehmen, wie sie sind und sie nicht zu etwas vermeintlich besseren machen zu wollen. Unerzogen ist der Verzicht auf Erziehung und damit in erster Linie ein Entschluss Kinder wie jeden anderen Menschen zu betrachten und auch so mit ihnen umzugehen.

Eltern, die ihre Kinder unerzogen begleiten wollen, versuchen sich ihrer elterlichen Macht bewusst zu werden und sie so wenig wie möglich zu benutzen. Ich schreibe das bewusst so, da elterliche Macht einfach immer präsent ist. Unsere Kinder sind von uns abhängig und es wird immer Situationen geben, in denen es uns nicht gelingen wird, unsere Macht ungenutzt zu lassen. Das anzuerkennen ist meiner Meinung nach ein ganz entscheidender Schritt bewusster Elternschaft. Unerzogen soll auch keine Messlatte dafür sein, wer am besten und friedvollsten mit den Kindern umgeht. Es geht also nicht darum alles perfekt zu machen. Es geht darum, sich Erziehung bewusst zu machen und möglichst oft darauf zu verzichten. Sich selbst zu reflektieren und zu schauen, wie es beim nächsten Mal vielleicht besser gehen kann. Unerzogen ist vor allem eins: Arbeit an sich selbst. Denn wir alle haben jede Menge Ideen über Kinder und Erziehung im Kopf, die wir nicht einfach so von uns schütteln können.

Was hier jetzt stellenweise vielleicht etwas kryptisch klingen mag, sollte im folgenden Artikel klarer werden. Wenn noch Fragen zu unerzogen unklar bleiben sollten, stelle sie mir gerne in den Kommentaren.

Unerzogen: Lässt du deine Kinder dann auch auf die Straße rennen?

Das ist der Klassiker und mit Abstand die meistgestellte Frage Und ich muss ehrlich sagen, dass ich sie nicht verstehen kann. Natürlich lasse ich meine Kinder nicht einfach so auf die Straße rennen. Ich trage die Verantwortung für meine Kinder, und zwar immer.

Es ist ja aber zum einen nicht so, als würden Kinder den ganzen Tag über Straßen rennen. Zum anderen schützt ja auch Erziehen nicht davor. Ich halte meine Kinder also natürlich davon ab, so wie ich jeden anderen Menschen auch davon abhalten würde. Ich bringe meine Kinder aus der Situation und erkläre kurz mein Handeln. Ich muss hier nicht drohen oder schimpfen oder sonst was tun. Ich erkläre, warum das gefährlich ist. Fertig. Ich kann mich dennoch nicht beim nächsten Mal darauf verlassen, dass das nun problemlos klappt. Denn zum einen hat das was mit dem Alter der Kinder zu tun. Ich kann nicht Dinge erwarten, für die mein Kind kognitiv noch gar nicht bereit ist. Zum anderen wird es, solange meine Kinder klein sind, immer in meiner Verantwortung bleiben.

Unerzogen: Ohne Erziehung machen Kinder was sie wollen und tanzen den Eltern auf der Nase rum

Nach dem Lustprinzip zu leben, ist in unserer Gesellschaft ziemlich verpönt. Immerhin wurden und werden wir alle den Großteil unseres Lebens zu irgendwas „gezwungen“. Das vermeintliche „das ist halt so“ oder „da musst du eben durch“ begleitet uns schon eine ganze Weile und ist DER Grund für alles. Das muss aber nicht zwingend so sein. Hier beginnt es kompliziert zu werden, denn unerzogen kann ganz schön schnell an den fundamentalen Glaubenssätzen wackeln. Empörung und Ablehnung sind dann meist die häufige Reaktion, manchmal folgt dann mit etwas Abstand das Interesse.

Aber zurück zur eigentlichen Aussage. Jein. Kinder, die nicht erzogen werden, haben sicherlich häufiger die Gelegenheit Dinge so zu machen, wie sie wollen. Das muss aber nichts negatives sein. Denn so erfahren Kinder Selbstwirksamkeit, eine sehr wichtige Eigenschaft für uns Menschen. Auch ist das nicht permanent der Fall. Denn unerzogen bedeutet nicht, dass ich meine elterliche Verantwortung abgebe. Es bedeutet, dass da, wo Erziehung Strafen, Drohen, die nett verpackten „Konsequenzen“ oder das berüchtigte letzte Machtwort einsetzt, ich als Elternteil nichts Äquivalentes entgegenzusetzen habe. Und dennoch habe ich mich und meine Grenzen (oder auch die anderer), die ich wunderbar kommunizieren kann.

Ich verzichte auf Erziehung, nicht aber darauf mich selbst zu zeigen. Ich kann, darf und sollte zeigen, wenn mir etwas gegen den Strich geht, und zwar deutlich.

Wo der Unterschied zur Erziehung dann ist, fragst du dich?

Ich kann es nicht abschließend durchsetzen. Das muss ich allerdings nicht. Denn Kinder sind kooperativ. Sie verstehen so viel mehr als man denkt. Ich habe dennoch ein kräftiges Tool, nämlich das der Alternativen. Ich verbiete nicht pauschal. Ich gehe in Kommunikation. Warum will das Kind xy machen? Was verspricht es sich davon? Hat oder will ein Kind beispielsweise eine Wand bemalen, ist es spannend herauszufinden, woher der Impuls kommt. Oft ist es das Malen selbst, dann biete ich Papier und Stifte und einen geeigneten Ort an und gut ist. Manchmal geht es aber auch darum einen besseren Ort für die eigene Kreativität zu haben. Und wiederum manchmal möchte das Kind seine Umgebung gern verschönern.  Kurz, ich biete Alternativen an, lenke um und gehe ins (je nach Alter kurze) Gespräch.

Das, was sich hier wie eine tagesfüllende Tätigkeit liest, dauert in den allermeisten Fällen nicht länger als das erzieherische Durchsetzen. Denn auch hier ist es ja oft nicht so, dass es auf anhieb klappen würde.


Kinder, die unerzogen begleitet werden, kennen keinerlei Grenzen und werden zu Tyrannen.

Hier ist es wichtig sich die Grenzen selbst genauer anzuschauen. Denn allgemeingültige Grenzen a la „das macht man nicht“ gibt es eher nicht. Dennoch sind Grenzen auch bei unerzogen ganz grundlegend wichtig. Es geht hier aber um ganz persönliche Grenzen. Grenzen, die nicht starr und unwillkürlich sind, sondern die in dem ganz bestimmten Moment von einer Person gefühlt und kommuniziert werden.  Auch bei unerzogen gibt es also Grenzen, es sind aber keine allumfassenden, immer gültigen Grenzen.

Es macht einen großen Unterschied, ob ich etwas nicht möchte, weil man das nicht macht oder ob ich mir wünsche, dass das Kind kurz beim Essen sitzen bleibt, weil es für mich ganz einfach zu unruhig ist. Letzteres beschreibt mein Problem mit der Sache. Es geht nicht um mein Kind selbst, sondern darum, was das ständige Bewegen mit mir macht. Hier darf ich aber auch nach dem Alter schauen und mich fragen, ob mein Kind überhaupt gerade in der Lage ist, sich nicht zu bewegen. Auch kann ich nicht „durchsetzen“, dass mein Kind jetzt stillsitzt. Ich kann aber Alternativen anbieten. Dass es sich vielleicht noch kurz austoben geht und erst danach isst. Dass ich sonst kurz mit dem Essen warte und gleich in Ruhe esse oder dass wir ein Picknick auf dem Boden machen, weil der Stuhl zu unbequem ist. Oder, oder, oder. Unerzogen gibt uns so viel mehr Handlungsspielraum. Denn wenn wir einmal verinnerlicht haben, Alternativen anzubieten und Lösungen jenseits von „das geht nicht“ oder „ich will das nicht“ zu finden, tuen sich plötzlich Welten an Möglichkeiten auf. Denn dann geht s nicht mehr nur um entweder oder, sondern es finden sich ganz oft völlig überraschende Möglichkeiten von und. Das ist absolut bereichernd und ist für mich DIE Erkenntnis schlecht hin.

Es geht also nicht um feste Grenzen, sondern um mich (oder andere). Ich zeige mich, ich erkläre mich und gebe meinem Kind so ganz nebenbei mit, dass Menschen auch unterschiedliche Grenzen haben. Denn meine müssen nicht die des Papas sein.

Die Angst vor den Tyrannen ist groß. Kinder wollen aber kooperieren, wenn wir ihnen nur Gelegenheit dazu geben. Jedes Verhalten hat einen Grund. Wenn Kinder sich also stark „auffallend“ benehmen, sollten wir genauer hinschauen. Kinder, die es gewohnt sind, unerzogen und auf Augenhöge begleitet zu werden, lassen sich zwar nicht so einfach manipulieren. Gibt es aber einen plausiblen Grund, sind sie sehr oft „nachsichtig“ und lenken ein.

Eltern, die ihre Kinder nicht erziehen, machen es sich leicht und sind verantwortungslos.

Das kann nur jemand denken, der es nicht selbst einmal ausprobiert hat. Das Gegenteil ist der Fall. Denn Eltern, die ihre Kinder unerzogen ins Leben begleiten, übernehmen radikale Verantwortung. Sie leben nach ihren Werten und respektieren die ihrer Kinder. Sie erklären, verhandeln, zeigen alternative Lösungsmöglichkeiten auf. Und ganz wichtig, sie bearbeiten vor allem ihre eigenen Themen. Festverankerte Glaubenssätze, schmerzende Erinnerungen aus der eigenen Kindheit – all das kann nicht mehr einfach so beiseitegeschoben werden. All dieser Ballast hindert bzw. erschwert uns einen anderen Umgang mit unseren Kindern. Friedvolle Elternschaft ist daher alles andere als leicht. Denn gerade in den ersten Jahren ist es durchaus anstrengender und anspruchsvoller als Kinder klassisch zu erziehen. Denn kleinen Kindern fehlt oft noch das Verständnis, sie lernen noch. Auch werden wir nur allzu oft durch ihr „Verhalten“ getriggert. Denn nur weil wir uns dazu entschieden haben, unsere Kinder unerzogen aufwachsen zu lassen, ist nicht mit einem Mal all die Erziehung weg, die wir selbst erfahren und in uns verankert haben. Wir legen in diesen Jahren aber das Fundament. Mit höherem Alter wird es dann leichter.

Unerzogene Kinder sind unhöflich und kennen keinen Respekt.

Wenn es um „natürlich gegebenen“ Respekt geht, kann das passieren. Denn Respekt ist in meinen Augen keine Einbahnstraße. Menschen, die respektvoll auf meine Kinder zugehen, werden auch so behandelt. Außerdem ist das ganz klar eine Altersfrage. Denn das, was wir oft als unhöflich betrachten, können kleine Kinder schlicht und ergreifend noch gar nicht. Natürlich kann ich Kinder immer und immer wieder dazu anhalten „guten Tag“ oder bitte oder danke zu sagen. Aber rein kognitiv ist das trotzdem nicht da. Ohne Erziehung leben wir Kindern vor. Ich habe meinen Kindern nie beigebracht bitte oder danke zu sagen und doch sind sie überaus höfliche Kinder und bedanken sich mehrmals täglich bei mir oder entschuldigen sich. Ganz von selbst. Einfach, weil ich es auch bei ihnen mache.

Das haben sie aber nicht immer so gemacht. Als sie kleiner waren, habe ich das ganz einfach für sie übernommen. Im Übrigen sehe ich strahlende Kinderaugen als so viel dankbarer als jedes rausgepresste danke.

Und die Sache mit dem Grüßen? Auch das ist etwas, was mit der Zeit von ganz allein kommt. Die meisten Kinder fühlen sich in solchen Situationen eher unwohl. Gerade wenn es sich um fremde Personen handelt. Außerdem ist es ihnen schlicht und ergreifend nicht wichtig. In dem ich es vorlebe, kommt auch das irgendwann von selbst. Es ist aber auch die Frage, warum wir ständig irgendwelche Floskeln erwarten. Was haben wir davon? Was bringt uns das Wort Entschuldigung, wenn es nicht von Herzen kommt? Kinder sind nicht dafür da unsere Erwartungen zu erfüllen. Auch wird hier nur allzu gern mit zweierlei Maß gemessen. Es wird oft weit mehr von Kindern erwartet, als der Großteil der Erwachsene selbst in der Lage ist zu vollbringen. Schimpfwörter sind hier das beste Beispiel.

Unerzogene Kinder kommen später in der Gesellschaft nicht klar

Dieser Annahme liegt zugrunde, dass Kinder sich nicht anpassen könnten, wenn sie nicht dazu erzogen wurden. Das mag in einigen Fällen so sein. Dann halte ich es aber für sehr gesunde Fälle. Denn nicht die eigene Integrität zu übergehen und sich einfach an erwartetes anzupassen, ist meiner Meinung nach eine sehr wertvoll Eigenschaft. Außerdem wissen wir ganz einfach nicht, was in der Zukunft sein wird.

Was ich ganz prinzipiell davon halte, Kinder an eine Gesellschaft anzupassen, die heute bereits grundlegend falsch läuft, habe ich hier bereits geschrieben.

unerzogen - ohne Erziehung leben - Familiengarten

Fallen dir noch mehr Vorurteile zu unerzogen ein? Dann schreib sie mir doch gerne in den Kommentaren. Wie gehst du damit um?

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2 Kommentare zu „Unerzogen: die häufigsten Vorurteile und wie es wirklich ist“

  1. Das ist ein gut geschriebener Artikel, du setzt dich sehr mit dem Thema auseinander. Ich wünsch dir viel, viel Glück, dass deine Rechnung aufgeht! 😊

    1. Danke schön. Auch wenn ich nicht so ganz weiß, was du damit meinst. Ich habe keine Rechnung, die aufgehen könnte. Wir leben einfach unser Leben 🙂

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