Bedürfnisorientierte Erziehung - ist das elterliche Selbstaufgabe - Familiengarten

Bedürfnisorientierte Erziehung: Geht das nur mit Selbstaufgabe?

Sobald das Wort bedürfnisorientierte Erziehung fällt, wird immer und immer wieder betont, dass sich Eltern doch bitte nicht selbst dabei aufgeben sollten. Gibt es da wirklich einen Zusammenhang und wenn ja, wie kann ein möglicher Ausweg aus dem Dilemma aussehen?
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Schauen wir uns die Diskussion um bedürfnisorientierte Erziehung und die Selbstaufgabe der Eltern näher an, fällt auf, dass es scheinbar nur ein entweder oder zu geben scheint. Entweder kann es den Kindern gut gehen oder den Eltern. Und wenn wir ganz genau hinsehen, zeigt sich, dass das, was so besorgniserregend und Hände über den Kopf schlagend bei den Eltern festgestellt wird, auf der anderen Seite von Kindern völlig selbstverständlich verlangt wird: Das Übergehen eigener Bedürfnisse, das sich Anpassen an die Bedürfnisse anderer, das sich selbst zurücknehmen. Das fällt nur kaum jemandem auf, weil es für die aller meisten Menschen als völlig normal betrachtet wird, dass sich Kinder unterzuordnen haben.

Aber warum sollte das so sein?

Müsste es uns großen Menschen nicht bedeutend leichter fallen uns zurückzunehmen und sollte es dann also, wenn überhaupt nicht eigentlich andersrum sein?

Und was wäre, wenn es gar nicht um entweder oder geht, sondern um ein sowohl als auch?

In diesem Artikel schaue ich mir die bedürfnisorientierte Erziehung und die Sache mit der elterlichen Selbstaufgabe mal genauer an.

Was bedeutet bedürfnisorientierte Erziehung überhaupt?

Ist Bedürfnisorientierung per se „Schuld“ an einer Selbstaufgabe der Eltern?

Gibt es möglicherweise noch andere Dinge, die sich ändern sollten, damit es Eltern UND Kindern leichter gemacht wird?

Bedürfnisorientierte Erziehung: Was bedeutet das genau?

Hinter jedem menschlichen Verhalten steht ein Bedürfnis, dass gesehen und erfüllt werden will. Bedürfnisorientierte Erziehung versucht dies zu sehen und darauf einzugehen und bedeutet erstmal nichts weiter als das familiäre Zusammenleben und das Handeln nach den Bedürfnissen auszurichten. Das umfasst ganz klar die Bedürfnisse ALLER Familienmitglieder. Es spielen also sowohl die Bedürfnisse der Kinder als auch die der Eltern eine Rolle. Das hört sich erstmal stimmig und logisch an, ist aber in der Realität oft eine große Herausforderung.

Das liegt vor allem an unserer eigenen Prägung, denn kaum jemand kann hier auf vorhandene Vorbilder zurückgreifen. Im Gegenteil, die aller meisten von uns wurden klassisch erzogen und auch von einer überaus erziehenden Gesellschaft geprägt. Bedürfnisse, egal von wem und von welcher Art spielten und spielen in diesem System, wenn überhaupt, eine sehr untergeordnete Rolle. Viel entscheidender war und ist der gute alte „man“. Man macht dieses nicht, man macht das nicht und zu viele Gefühle hat man eben auch schlicht und ergreifend nicht zu haben.

Das bringt eine Reihe von Problemen mit sich, denn zum einen haben viele von uns völlig verlernt auf die eigenen Bedürfnisse zu hören, zum anderen wissen die allermeisten schon gar nicht mehr, was Bedürfnisse überhaupt sind. Hier wieder hinzuspüren und wieder eine Verbindung zu sich selbst zu finden, kann eine überaus fordernde Aufgabe sein, die ziemlich viel Zeit und Kraft kosten kann. Erst recht, wenn sie „neben“ den Kindern und dem alltäglichen Familienwahnsinn passiert.

Es wird aber noch komplizierter, denn kleine und große Menschen haben eine unterschiedliche Dringlichkeit in der Bedürfniserfüllung. Je jünger ein Mensch ist, desto prompter muss das Bedürfnis erfüllt werden. Dies hat wiederum zur Folge, dass Eltern und vor allem Mütter gerade im Babyalter ihre eigenen Bedürfnisse stark übergehen. Denn mit einem Baby lassen sich Bedürfnisse ganz einfach schlecht verhandeln.

Große Menschen haben aber die Fähigkeit Bedürfnisse durch unterschiedliche Strategien zu erfüllen. Im Gegensatz zu Kindern können wir Großen also zum einen leichter auch mal warten, zum anderen haben wir eben nicht nur einen einzigen Weg der Bedürfniserfüllung. Auch sind wir in der Lage zu schauen, dass nicht zwingend unser Kind für unsere Bedürfniserfüllung herhalten muss, sondern dass wir auch andere Wege finden können. Das gelingt allerdings nur, wenn wir unsere Bedürfnisse auch kennen und (wieder) lernen, auf sie zu achten.


Bedürfnisorientierte Erziehung: Also doch nur mit Selbstaufgabe möglich?

Dass wir es nicht gewohnt sind auf Bedürfnisse zu achten und nach diesen zu handeln, heißt weder, dass es unmöglich ist, noch dass bedürfnisorientierte Erziehung nicht sinnvoll wäre. Im Gegenteil. Bedürfnisorientierte Erziehung ist immens wichtig, um eben Kindern ihre Bedürfnisse nicht abzutrainieren. Menschen, deren Bedürfnisstank gefüllt ist, gehen viel leichter durchs Leben. Sie leben nicht im Mangel und brauchen keine Ersatzbefriedigung, auch können sie die Bedürfnisse anderer sehr viel besser achten. Ich halte es für ein Menschenrecht, dass Bedürfnisse geachtet werden, und sehe bedürfnisorientierte Erziehung als DEN Schlüssel für sehr viele unserer heutigen Probleme.

Aber was machen wir jetzt mit dem Problem der elterlichen Selbstaufgabe?

Dass wir es nicht gewohnt sind, bedürfnisorientiert miteinander umzugehen, heißt lediglich, dass wir alle da reinwachsen müssen. Den einen fällt das etwas leichter, den anderen schwerer. Daran eng geknüpft ist eben auch die Frage nach der elterlichen Selbstaufgabe. Sowohl die Wahrnehmung daran als auch die tatsächlich vorhandene.

Denn Menschen, die ihre eigenen Bedürfnisse nicht oder nur ungenügend kennen, aber bedürfnisorientiert mit ihren Kindern umgehen wollen, übergehen ihre eigenen natürlich sehr viel schneller als Menschen, die tief in sich ruhen und wissen, was sie wann und wie brauchen, um gut mit ihren Kindern umzugehen.

Aber auf der anderen Seite wird eben auch vieles als Selbstaufgabe angesehen, was für Eltern vor allem sehr kleiner Kinder eben irgendwo auch dazugehört.

Und dann ist in dieser Betrachtung etwas ganz anderes viel entscheidender, nämlich die Tatsache, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Familie rein gar nichts zählt. Die Bedürfnisse von Kindern und Familien werden praktisch nirgends auch nur wahrgenommen, geschweige denn, dass sich irgendetwas nach ihnen richtet. DAS ist das eigentliche Problem. Denn Eltern müssen sich permanent zerreißen und werden dabei kaum gesehen. Kinder gelten als reines Privatvergnügen, Care-Arbeit wird allenfalls als teures Hobby abgetan und Familien dürfen selbst zu sehen, wie sie denn mit all dem Schlammassel zurechtkommen.

Hier muss angesetzt werden. Das ist aber nicht die „Schuld“ einer bestimmten „Erziehungsmethode“, sondern ein waschechtes Gesellschaftsproblem.

Die Arbeit, die Eltern den ganzen Tag leisten, muss anerkannt werden. Es darf nicht sein, dass die Stimmen von Familien praktisch ungehört bleiben. Es muss gesehen werden, dass Kinderbegleitung ein intensiver Vollzeitjob ist, der nicht mal eben neben bezahlter Erwerbsarbeit, Haushalt und allen anderen Pflichten im Vorbeigehen erledigt werden kann. Es fehlt vollkommen die Sicht von Eltern und auch die Anerkennung der Anstrengungen, die Eltern täglich haben.

Immer mehr Eltern und hier vor allem Mütter sind vom Burnout betroffen. Es fehlt hinten und vorne an entlastenden Strukturen für Eltern, während Erwartungen und Druck von außen immer mehr zunehmen.

Was für Veränderungen bräuchte es konkret?

  • Flexiblere Arbeitszeiten mit weniger Wochenstunden
  • Anerkennung und Bezahlung von Care-Arbeit
  • Räume und Plätze, in denen Familien mit Kindern willkommen sind und sich auch wie Kinder verhalten dürfen
  • Hilfe und Verständnis von außen
  • Alternative Betreuungsmöglichkeiten, die sich mehr an den Bedürfnissen der Kinder (und der Eltern) orientieren
  • Flexiblere Anfangszeiten in der Schule
  • Die Möglichkeit sich selbst um die Kinder zu kümmern
  • die Chance eigenverantwortlich als Familie zu leben, das schließt in meinen Augen auch Bildungsfreiheit mit ein

Denn für Kinder, die bedürfnisorientiert begleitet werden, passen der Kindergarten oder die Schule sehr oft nicht. Aber auch hier liegt das Problem nicht an der bedürfnisorientierten Erziehung selbst, sondern an den Institutionen, die oftmals völlig an den Bedürfnissen der Kinder vorbeigehen.

Es sollte also im Familienalltag sehr viel leichter sein, Bedürfnisse unterschiedlicher Familienmitglieder miteinander zu vereinen. Die wohl grundlegendsten Tools hierfür sind Zeit und Ruhe. Beides Dinge die es im Familienleben traurigerweise kaum mehr gibt.

Hier sollte sich dringend etwas ändern und hierauf müssen wir immer und immer wieder verweisen. Trotzdem macht es nicht viel Sinn darauf zu warten. Wir selbst können in kleinen und großen Schritten wenigstens etwas in die Veränderung kommen. Das ist nicht immer leicht, manchmal braucht das sogar wirklich viel Kraft und Ressourcen. Aber es muss auch nicht immer alles sofort passieren. Mehr dazu, wie wir unser Familienleben selbst bedürfnisorientiert ausrichten können, liest du hier.


Warum gibt es bei der bedürfnisorientierten Erziehung stärkere Tendenzen zur Selbstaufgabe?

In einer Gesellschaft, in der Kinder als störend, laut und unerzogen gelten und ansonsten praktisch unsichtbar sind, ist die Frage nach elterlicher Selbstaufgabe nur sehr schwer zu beantworten. Denn die Wahrnehmung ist hier völlig verzerrt.

Und doch gibt es einen stärkeren Zusammenhang zwischen bedürfnisorientierter Erziehung und elterlicher Selbstaufgabe als das bei der autoritären Erziehung der Fall ist. Das liegt ganz einfach daran, dass eben auf der einen Seite, die Bedürfnisse der Kinder gewahrt werden, während es auf der anderen Seite eben primär um die Bedürfnisse der Erwachsenen geht. Das macht bedürfnisorientierte Erziehung aber nicht weniger wichtig und nicht schlechter. Es bedeutet nur, dass hier besonders schnell sichtbar wird, was im Großen schiefläuft.

Ganz konkret bedeutet das:

  • Hier werden strukturelle Probleme besonders deutlich, denn wir leben ganz einfach nicht artgerecht. Wir sind nicht dafür gemacht, im Kleinfamilienverbund zu leben. Das Dort fehlt. Manche finden einen Dorfähnlichen Ersatz in Institutionen, aber bedürfnisorientierte Erziehung ist hier leider noch nicht ansatzweise Standard. Und so kann das, was eigentlich entlasten sollte, schnell zu einem weiteren Druck- und Stresspunkt werden.
  • Gerade wenn ich die Bedürfnisse meiner Kinder wahren möchte, komme ich schnell an meine Grenzen, was das Außen angeht. Der Alltag ist vielerorts so eng getacktet, dass kaum noch Platz für kindliche Bedürfnisse bleibt. Eltern, die trotzdem die Bedürfnisse der Kinder achten, geraten so sehr schnell unter weiteren Druck.
  • In einer nicht bedürfnisorientierten Gesellschaft bedürfnisorientiert zu leben ist eine enorme Herausforderung, die viele Eltern stark unter Druck setzt. Viele Eltern wollen es richtig machen und ihren Kindern auf gar keinen Fall schaden. Ein sehr wichtiges Ziel. Und doch sind wir eben auch Menschen und nicht unfehlbar. Sich das als Eltern einzugestehen, die ganz bewusst andere Wege gehen wollen, kann ein ganz schön schwieriger Prozess sein.
  • In meinen Augen gibt es einen weiteren Grund. Viele Eltern reagieren auch erst mit bedürfnisorientier Erziehung auf ihre besonders bedürfnisstarken Kinder. Will heißen, dass es in vielen Fällen vermutlich auch ohne bedürfnisorientierte Erziehung zur Selbstaufgabe gekommen wäre.
  • Außerdem sind wir alle es nicht gewohnt, dass Kinder ihre Grenzen kommunizieren können und diese zur Not auch verteidigen. Uns wurde das so sehr abtrainiert, dass wir damit nur sehr schwer umgehen können, denn da meldet sich sofort das eigene innere Kind lautstark zu Wort.

Bedürfnisorientierte Erziehung: Wie ist der Ausweg aus dem Dilemma?

Bedürfnisorientierte Erziehung erfordert ein intensives Auseinandersetzen mit uns selbst und hier ganz besonders eben auch mit unseren Bedürfnissen. Indem wir wieder Zugang zu unseren eigenen Bedürfnissen und Grenzen finden und lernen diese zu kommunizieren, legen wir einen ganz entscheidenden Grundstein für die bedürfnisorientierte Begleitung unserer Kinder. Das kann ein langer und schwieriger Weg sein. Sich das überhaupt erstmal bewusst zu machen, ist der erste Schritt.

Hilfreiche Wege können sein:

  • Innere Kind Arbeit
  • viel Selbstreflektion und genaues hinspüren. Warum habe ich eben so wütend reagiert? Was genau macht das mit mir? Was brauche ich eigentlich? Was will ich wirklich damit sagen?
  • Hypnose
  • The Work
  • Freyes Spiel

Empfehlenswerte Hörbücher

Diese Bücher und Hörbücher können dir auf deinem Weg zu dir selbst behilflich sein:

Ich persönlich liebe ja Hörbücher, da sie sich wunderbar auch in den vollgestopften Alltag als Mama integrieren lassen und eben auch „nebenbei“ gut anzuhören sind. Bei Storytel gibt es jede Menge hilfreiche, aber auch unterhaltsame oder spannende Hörbücher. Mit meinem Link kannst du storytel unverbindlich unverbindlich vier Wochen kostenlos testen und dir dabei so viele Hörbücher anhören, wie du magst*:

  • Nestwärme, die Flügel verleiht: Halt geben und Freiheit schenken – wie wir erziehen, ohne zu erziehen
  • A Mind at Home with Itself

Empfehlenswerte Bücher

Weitere empfehlenswerte Hörbücher rund um die bedürfnisorientierte Erziehung findest du hier.

Wenn wir wieder (mehr) Zugang zu unseren eigenen Bedürfnissen haben, können wir lernen, auch vermeintlich gegenseitige Bedürfnisse miteinander zu vereinen.

Denn auch, wenn das oft völlig ausweglos erscheint, geht es in der bedürfnisorientierten Erziehung eben nicht um entweder oder, sondern um sowohl als auch. Wenn wir anfangen, outside the box zu denken, lassen sich sehr oft auch zunächst gegensätzlich wirkende Bedürfnisse kreativ miteinander vereinen.

Diese Art zu denken ist in meinen Augen eine absolute Bereicherung, auch für alle anderen Bereiche des Lebens, muss aber von den allermeisten erst erlernt werden. Indem wir hier aber immer wieder genau hinschauen, hin spüren und kreative Lösungen suchen, können wir da reinwachsen. Ganz konkrete Tipps und Ideen werden in einem der nächsten Beiträge folgen.

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